külföldi publikációk ::
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Flighbook Hungary
2009
A kötet az osztrák légitársaság, az Austrian Airlines és a Wieser Verlag közremûködésével jött létre, a mai magyar irodalom rövid antológája, amit az osztrák légijáratokon kapnak meg az utasok.
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Europa Erlesen - Alpen Adria (3 részlet)
2009
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Halbwegs zum Himmel (Graz, Cultural City Network)
2008
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Insgeheim, 2007, Wieser Verlag, Klagenfurt
2007
Xóchil Schütz: Literatur aus Ungarn
Waehrend hier in Lettland die Tage um mein Bein streichen wie Katzen, und ab und zu einer gaehnt und dabei die Zaehne zeigt und mich daran erinnert, dass das Leben auch ein Raubtier ist ... waehrenddessen habe ich ein weiteres Buch gelesen: den dicken Roman eines gerade ebenfalls im Schriftstellerhaus weilenden Autoren aus Ungarn, Karoly Mehes. Er heisst "Insgeheim" und erzaehlt die Geschichte eines Jungen, spaeter Mannes, dessen Vater von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwand. Bis zum Ende klaert sich nicht auf, ob der Vater, ein Geheimpolizist im Ungarn der 70er Jahre, Mutter und Kind aus politischen oder privaten Gruenden verloren ging.
Die entstehende grosse Naehe zwischen Mutter und Sohn scheint mir dennoch das Hauptthema des Buches zu sein - eine Liebe, die viel zu absolut scheint und dennoch von fast wundersamer Schoenheit ist. Vier weitere Frauenfiguren, jede eigen gezeichnet, bereichern Leben und Phantasie des Protagonisten.
Zwischendurch habe ich mich gefragt, ob die eigenwillige und dabei stille Geschichte nicht auch auf weniger Seiten haette erzaehlt werden koennen. Dass der Autor die Erzaehlebene des Oefteren verlaesst und ueber das Geschriebene nachdenkt, fand ich unnoetig. Und dennoch ... ist dieses Buch eigen und schoen und hat mich daran erinnert, dass es viele Lebenslaeufe gibt - und sei es in der Literatur - die ein Geheimnis bergen, etwas Ungreifbares, und die dennoch ... fortlaufen und nach Vollendung suchen.
(Károly Méhes: Insgeheim. Wieser Verlag 2007.)
____________
Aus dem Buch
Wir besaßen ein einziges Fotoalbum, das ich ebenfalls bei einer meiner privaten Forschungsexpeditionen gefunden hatte. Ich mußte jedoch feststellen, daß das Schicksal mich nicht mit mir unbekannten Schätzen beschenkte: es waren einige Fotos von Opas altem Haus darin, die jedoch Mama auch in ihrer Brieftasche hatte, außerdem noch einige Bilder von Mama in einem weißen Kleid, sie muß darauf ungefähr zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Das Geheimnis dieser Fotografie ist, daß Mama nicht weiß oder mir nicht verraten will, zu welchem Anlaß sie entstanden ist. Wir haben auch eine alte, zerfledderte Pralinenschachtel, darin einige weitere vergilbte Fotografien, auf denen jedoch Mamas Aussage nach ausschließlich solche Leute zu sehen sind, die vor langer Zeit gelebt und die sie nie getroffen habe, ja, die eigentlich bereits alle tot seien, sie wisse selbst nicht, weshalb sie sie aufbewahre. Vielleicht weil diese seit langem zu Staub gewordenen, steifen Gesichter eine beruhigende Sicherheit ausstrahlten, die dem Betrachter vermittle, daß möglicherweise weder das Leben, noch der Tod etwas Schlimmes sei. Diese philosophischen Gedanken sprach Mama ohne jegliche Ergriffenheit aus und im nächsten Moment klappte sie die Schachtel auch schon zu und bat mich, sie an ihren Platz zurückzustellen.
Käroly Mehes, geboren 1965 in Pécs. Dichter und Schriftsteller. Arbeitet als Journalist bei der lokalen Tageszeitung »Dunántúli Napló« in Pécs (Kulturressort), der größten Regionalzeitung in Ungarn. Seit 1991 arbeitet er als Journalist im Kulturbereich Publikationen: Seit 1983 mehr als 400 Veröffentlichungen in verschiedenen ungarischen Literaturzeitschriften wie Holmi, Mühely, Jelenkor, Alföld, Kortárs, Vigilia, Élet és Irodalom — aber auch in
Lichtungen (Graz), Etcetera (St. Pölten) und Podium (Wien). Im Wieser Verlag erschienen: EditionZwei. A szakáll — másodszor. Nem vész el, csak átalakul/Zwei Bärte. Von der Erhaltung der Materie. ";
Zur Übersetzerin
Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, lebte viele Jahre in Ungarn, studierte Französisch, Spanisch und Kulturwissenschaften. Sie hat u. a. bereits Antal Szerb und Krisztián Grecsó übersetzt. Heute lebt Timea Tankó mit ihrer Familie wieder in Leipzig.
2004 Der kleine Leichenseher (.)
Mit dem Band "Der kleine Leichseher" setzt Károly Méhes seine bisherige schriftstellerische Linie fort, was keineswegs in negativer Weise zu verstehen ist. Die fünfzehn, thematisch voneinander unabhängigen Novellen sind in ihrem mal morbiden (zuweilen geradewegs an einen Schauerroman erinnernden), mal grotesken oder ironisch-humorvollen Ton unverwechselbar Novellen aus der Feder Méhes'. Seine Protagonisten sind - wie wir es von ihm gewohnt sind - vollkommen alltägliche Menschen: der sich nach der vergötterten Schauspielerin sehnende Jugendliche, eine nicht allzu schöne, ja sogar eher hässliche Frau, deren gesamtes Leben darin besteht, dass sie von ihrem Nachbarn nach dem Baden, wenn sie nackt ist, beobachtet wird, ein Dichter, ein Journalist, ein von seinem eigenen Sohn als "Henker des Geheimdienstes" titulierter Vater, ein kranker Vater und dessen Tochter, der Pfarrer und der einstige Strafgefangene, die gemeinsam ein Fußballspiel schauen usw. Diese "Helden" des Alltags konfrontieren sich in irgendeiner Weise mit der Vergangenheit, sind von einem Geheimnis umgeben, und dieses Geheimnis verbirgt sich meist in ihrer eigenen unausgesprochenen, unerzählten Vergangenheit, oder gerade in ihren eigenen verworrenen Gedanken. Auch wenn die Figuren Méhes' verschiedenen Alters sind und über unterschiedliche gesellschaftliche Stellungen verfügen, ist ihr Erscheinen doch immer authentisch. Aufgrund der Darstellungsweise des Autors, die als realistisch bezeichnet werden kann, wirken sie, als seien sie dem wahren Leben entsprungen. Erzählung und Darstellung der Charaktere entsprechen einander vollkommen, wie man es bei einer klassischen Erzählung erwartet. Des Weiteren sind die Novellen durch eine klare Sprache sowie eine einfache, gut durchdachte Struktur gekennzeichnet.
Waehrend hier in Lettland die Tage um mein Bein streichen wie Katzen, und ab und zu einer gaehnt und dabei die Zaehne zeigt und mich daran erinnert, dass das Leben auch ein Raubtier ist ... waehrenddessen habe ich ein weiteres Buch gelesen: den dicken Roman eines gerade ebenfalls im Schriftstellerhaus weilenden Autoren aus Ungarn, Karoly Mehes. Er heisst "Insgeheim" und erzaehlt die Geschichte eines Jungen, spaeter Mannes, dessen Vater von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben verschwand. Bis zum Ende klaert sich nicht auf, ob der Vater, ein Geheimpolizist im Ungarn der 70er Jahre, Mutter und Kind aus politischen oder privaten Gruenden verloren ging.
Die entstehende grosse Naehe zwischen Mutter und Sohn scheint mir dennoch das Hauptthema des Buches zu sein - eine Liebe, die viel zu absolut scheint und dennoch von fast wundersamer Schoenheit ist. Vier weitere Frauenfiguren, jede eigen gezeichnet, bereichern Leben und Phantasie des Protagonisten.
Zwischendurch habe ich mich gefragt, ob die eigenwillige und dabei stille Geschichte nicht auch auf weniger Seiten haette erzaehlt werden koennen. Dass der Autor die Erzaehlebene des Oefteren verlaesst und ueber das Geschriebene nachdenkt, fand ich unnoetig. Und dennoch ... ist dieses Buch eigen und schoen und hat mich daran erinnert, dass es viele Lebenslaeufe gibt - und sei es in der Literatur - die ein Geheimnis bergen, etwas Ungreifbares, und die dennoch ... fortlaufen und nach Vollendung suchen.
(Károly Méhes: Insgeheim. Wieser Verlag 2007.)
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Aus dem Buch
Wir besaßen ein einziges Fotoalbum, das ich ebenfalls bei einer meiner privaten Forschungsexpeditionen gefunden hatte. Ich mußte jedoch feststellen, daß das Schicksal mich nicht mit mir unbekannten Schätzen beschenkte: es waren einige Fotos von Opas altem Haus darin, die jedoch Mama auch in ihrer Brieftasche hatte, außerdem noch einige Bilder von Mama in einem weißen Kleid, sie muß darauf ungefähr zehn oder zwölf Jahre alt gewesen sein. Das Geheimnis dieser Fotografie ist, daß Mama nicht weiß oder mir nicht verraten will, zu welchem Anlaß sie entstanden ist. Wir haben auch eine alte, zerfledderte Pralinenschachtel, darin einige weitere vergilbte Fotografien, auf denen jedoch Mamas Aussage nach ausschließlich solche Leute zu sehen sind, die vor langer Zeit gelebt und die sie nie getroffen habe, ja, die eigentlich bereits alle tot seien, sie wisse selbst nicht, weshalb sie sie aufbewahre. Vielleicht weil diese seit langem zu Staub gewordenen, steifen Gesichter eine beruhigende Sicherheit ausstrahlten, die dem Betrachter vermittle, daß möglicherweise weder das Leben, noch der Tod etwas Schlimmes sei. Diese philosophischen Gedanken sprach Mama ohne jegliche Ergriffenheit aus und im nächsten Moment klappte sie die Schachtel auch schon zu und bat mich, sie an ihren Platz zurückzustellen.
Käroly Mehes, geboren 1965 in Pécs. Dichter und Schriftsteller. Arbeitet als Journalist bei der lokalen Tageszeitung »Dunántúli Napló« in Pécs (Kulturressort), der größten Regionalzeitung in Ungarn. Seit 1991 arbeitet er als Journalist im Kulturbereich Publikationen: Seit 1983 mehr als 400 Veröffentlichungen in verschiedenen ungarischen Literaturzeitschriften wie Holmi, Mühely, Jelenkor, Alföld, Kortárs, Vigilia, Élet és Irodalom — aber auch in
Lichtungen (Graz), Etcetera (St. Pölten) und Podium (Wien). Im Wieser Verlag erschienen: EditionZwei. A szakáll — másodszor. Nem vész el, csak átalakul/Zwei Bärte. Von der Erhaltung der Materie. ";
Zur Übersetzerin
Timea Tankó, geboren 1978 in Leipzig, lebte viele Jahre in Ungarn, studierte Französisch, Spanisch und Kulturwissenschaften. Sie hat u. a. bereits Antal Szerb und Krisztián Grecsó übersetzt. Heute lebt Timea Tankó mit ihrer Familie wieder in Leipzig.
2004 Der kleine Leichenseher (.)
Mit dem Band "Der kleine Leichseher" setzt Károly Méhes seine bisherige schriftstellerische Linie fort, was keineswegs in negativer Weise zu verstehen ist. Die fünfzehn, thematisch voneinander unabhängigen Novellen sind in ihrem mal morbiden (zuweilen geradewegs an einen Schauerroman erinnernden), mal grotesken oder ironisch-humorvollen Ton unverwechselbar Novellen aus der Feder Méhes'. Seine Protagonisten sind - wie wir es von ihm gewohnt sind - vollkommen alltägliche Menschen: der sich nach der vergötterten Schauspielerin sehnende Jugendliche, eine nicht allzu schöne, ja sogar eher hässliche Frau, deren gesamtes Leben darin besteht, dass sie von ihrem Nachbarn nach dem Baden, wenn sie nackt ist, beobachtet wird, ein Dichter, ein Journalist, ein von seinem eigenen Sohn als "Henker des Geheimdienstes" titulierter Vater, ein kranker Vater und dessen Tochter, der Pfarrer und der einstige Strafgefangene, die gemeinsam ein Fußballspiel schauen usw. Diese "Helden" des Alltags konfrontieren sich in irgendeiner Weise mit der Vergangenheit, sind von einem Geheimnis umgeben, und dieses Geheimnis verbirgt sich meist in ihrer eigenen unausgesprochenen, unerzählten Vergangenheit, oder gerade in ihren eigenen verworrenen Gedanken. Auch wenn die Figuren Méhes' verschiedenen Alters sind und über unterschiedliche gesellschaftliche Stellungen verfügen, ist ihr Erscheinen doch immer authentisch. Aufgrund der Darstellungsweise des Autors, die als realistisch bezeichnet werden kann, wirken sie, als seien sie dem wahren Leben entsprungen. Erzählung und Darstellung der Charaktere entsprechen einander vollkommen, wie man es bei einer klassischen Erzählung erwartet. Des Weiteren sind die Novellen durch eine klare Sprache sowie eine einfache, gut durchdachte Struktur gekennzeichnet.
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Grenzverkehr. Ein grenzenloses Gefühl
2006
Die Grenze ist das, wo etwas endet. Ganz endet. Sie trennt nicht, sie schließt ab. Ja, noch genauer: sie schließt ein.
In Gyõr steht an der Straße der Räterepublik ein grüner Wegweiser. Er ist am besten zu sehen, wenn wenn man von der Tankstelle kommend mit vollem Tank fast überall hin aufbrechen könnte. Das Schild zeigt nach links: Wien, nach rechts: Budapest. Wien ist 150 Kilometer entfernt, Budapest 146.
Jedes Mal, wenn wir da standen, auf der Kreuzung, sagte Vater wie zum Spaß, aber eher seufzend: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.” Wir saßen auf der hinteren Sitzbank des Volkswagens und verstanden seine Bemerkung nicht so richtig. Warum sollten wir nach Wien fahren? Und was ist dort so beseufzenswert, in 150 Kilometer Entfernung? Und wieso wieder nicht? Wobei es durchaus stimmte, daß wir auch gestern nicht und vorgestern nicht gefahren sind, ja, wir sind niemals nach Wien gefahren. Was hätten wir dort auch zu suchen?
Dann gingen einige Jahre ins Land. Wir erhielten rote Reisepässe, mit denen wir zu den Osterferien in die Tschechoslowakei fuhren. Diese kleine Büchlein stellten eine wichtige Errungenschaft dar, sie waren ernsthafte Dokumente, und ihre Inhaber mußten sich dementsprechend ernsthaft (sprich: brav) verhalten, als wir uns der ungarisch – tschechoslowakischen Grenze näherten. Dort warteten gestrenge Onkels auf uns, sie sahen aus wie Polizisten, sie wollten das rote Büchlein haben und studierten es genau, dann knickten sie ein wenig in den Knien ein und guckten durch das Seitenfenster, um die Fotos mit den Gesichtern der Insassen vergleichen zu können. Ordnung muß sein. Als sie dann alle Dokumente zurückgegeben hatten und leutselig sagten: „Sie können fahren ...”, glätteten sich Vaters Züge, und siehe da, wir waren im freundlichen Ausland angekommen.
Eine komische Gegend. Wir waren im Ausland und hörten dabei auf Schritt und Tritt, daß auch dies hier einmal Ungarn war, und wo wir auch immer anhielten, sprachen die Menschen alle ungarisch. Wir aßen Saftfleisch mit Knödel. Das gab es zu Hause nicht, also waren wir doch in einer fremden Welt. Fremd, aber angenehm. Sie schmeckte gut. Auf der Heimreise knallte uns ein entgegenkommender Lastwagen einen Stein in die Windschutzscheibe; sie verwandelte sich sofort zu Milchglas und musste herausgeklopft werden, Mutter und ich hielten eine Decke unter die Splitter. Der Wagen schlich im schnell kühl werdenden frühen Aprilabend ohne Frontscheibe über das ur-ungarische Land heimwärts, Richtung Grenze. Wir fröstelten alle, mein kleiner dreijähriger Bruder rief seinen Teddy zu Hilfe.
Und doch machten wir etliche Ausflüge dieser Art hinüber in die Nachbarschaft. Die Stempel im roten Reisepaß vermehrten sich. Wir mochten die Knödel und das Zlaty Bazant Bier. An der Tankstelle in Gyõr aber vernahmen wir stets den Satz, der einem Seufzer glich: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.”
Wieder verstrichen einige Jahre. An einem finsteren Abend im Feber schoben wir die Hausübungshefte auf dem Schreibtisch zur Seite und füllten detaillierte Fragebögen und Formulare aus. Wir mussten aufpassen wie die Haftelmacher, durften keinen Fehler machen, und ganz unten mit schöner Schrift unseren Namen hinmalen. Vater klebte eine Gebührenmarke in die rechte obere Ecke der Drucksorten. Er legte Briefe aus der Schweiz und Deutschland dazu, sowie deren beglaubigten Übersetzungen. Als alles fertig war, sortierte er die Papiere in einer halbholzfreien bläulichen Aktenmappe, klappte den Deckel zu und sagte: „Mal sehen, was daraus wird ...”
Dann warteten wir. Der Frühling war schon fast vorüber, als beim Ausfahren von der Tankstelle der magische Satz erklang: „Tja, hier werden wir bald nach links einbiegen, wenn alles wahr ist.”
Kann aber alles wahr sein?
Das wusste ich bereits, so etwas gibt es nicht, daß alles wahr ist, denn eine kleine Notlüge, ein kleiner Schwindel ist selbst bei größter Anstrengung nicht vermeidbar. Das geht ganz leicht, man findet immer etwas, wofür man zur Verantwortung gezogen werden kann. Und gerade das, wonach man sich am meisten sehnt, kann einem dann verboten werden.
Die neuen Reisepässe kamen in einem dicken, grauen, mit einer Unmenge von Stempeln und Briefmarken versehenen und mit Flachkopfklammern verschlossenen Umschlag an. Die Pässe waren hellblau, ich dachte, dementsprechend könnten wir mit ihnen in die blauen Staaten reisen. Vater erklärte mir, daß „Fenster” hineingestempelt wurden und daß die Westdeutschen und die Schweizer ihre Visa auf die Seiten 8 und 12 geklebt hätten, das waren recht hübsche Bildchen, versehen mit einem glitzernden Zeichen. Für Österreich brauchten wir gar keinen Sichtvermerk, bisher durfte man dorthin ohne Visum gar nicht einreisen.
Der Morgen des 23. Juni 1979 brach hellgrün und gelb schillernd
an. Nun sollte also der große Moment folgen, in dem wir die versteinerten Seufzer langer Jahre hinter uns lassen würden wie einen schiefen Kilometerstein auf der Landstraße. Der Tankwart füllte den Käfer auf, Vater zahlte und wir rollten vor, auf die Kreuzung zu. Die weißen Buchstaben leuchteten uns an, wie immer: Wien 150 und Budapest 146. Vater wartete noch einen Augenblick, dann stellte er die Frage: „Na, wollen wir nach Budapest oder nach Wien?” Und wir brachen in lautes Geheul aus: „Nach Wien, nach Wien, nach Wien!” Wir hüpften im Sitzen auf der hinteren Bank, Vater blickte zurück und lächelte durchgeistigt, legte den ersten Gang ein und verkündete, als übe er eine besondere Gnade aus: „Also gut, wenn ihr so gern nach Wien fahren wollt, dann fahren wir eben nach Wien!”
Und er betastete mit einer instinktiven Bewegung die hellblauen Reisepässe und die mit vielen Stempeln versehenen Valutaausfuhrgenehmigungen in seiner Jackentasche. Dann lenkte er den Wagen auf die wohl tausendmal befahrene Landstraße, die diesmal keine einfache Landstraße war, sondern die Straße zur Grenze.
Zur Grenze, wo die Welt anscheinend doch nicht zu Ende ist.
Ja, es kann sogar sein, daß sie dort beginnt.
In Gyõr steht an der Straße der Räterepublik ein grüner Wegweiser. Er ist am besten zu sehen, wenn wenn man von der Tankstelle kommend mit vollem Tank fast überall hin aufbrechen könnte. Das Schild zeigt nach links: Wien, nach rechts: Budapest. Wien ist 150 Kilometer entfernt, Budapest 146.
Jedes Mal, wenn wir da standen, auf der Kreuzung, sagte Vater wie zum Spaß, aber eher seufzend: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.” Wir saßen auf der hinteren Sitzbank des Volkswagens und verstanden seine Bemerkung nicht so richtig. Warum sollten wir nach Wien fahren? Und was ist dort so beseufzenswert, in 150 Kilometer Entfernung? Und wieso wieder nicht? Wobei es durchaus stimmte, daß wir auch gestern nicht und vorgestern nicht gefahren sind, ja, wir sind niemals nach Wien gefahren. Was hätten wir dort auch zu suchen?
Dann gingen einige Jahre ins Land. Wir erhielten rote Reisepässe, mit denen wir zu den Osterferien in die Tschechoslowakei fuhren. Diese kleine Büchlein stellten eine wichtige Errungenschaft dar, sie waren ernsthafte Dokumente, und ihre Inhaber mußten sich dementsprechend ernsthaft (sprich: brav) verhalten, als wir uns der ungarisch – tschechoslowakischen Grenze näherten. Dort warteten gestrenge Onkels auf uns, sie sahen aus wie Polizisten, sie wollten das rote Büchlein haben und studierten es genau, dann knickten sie ein wenig in den Knien ein und guckten durch das Seitenfenster, um die Fotos mit den Gesichtern der Insassen vergleichen zu können. Ordnung muß sein. Als sie dann alle Dokumente zurückgegeben hatten und leutselig sagten: „Sie können fahren ...”, glätteten sich Vaters Züge, und siehe da, wir waren im freundlichen Ausland angekommen.
Eine komische Gegend. Wir waren im Ausland und hörten dabei auf Schritt und Tritt, daß auch dies hier einmal Ungarn war, und wo wir auch immer anhielten, sprachen die Menschen alle ungarisch. Wir aßen Saftfleisch mit Knödel. Das gab es zu Hause nicht, also waren wir doch in einer fremden Welt. Fremd, aber angenehm. Sie schmeckte gut. Auf der Heimreise knallte uns ein entgegenkommender Lastwagen einen Stein in die Windschutzscheibe; sie verwandelte sich sofort zu Milchglas und musste herausgeklopft werden, Mutter und ich hielten eine Decke unter die Splitter. Der Wagen schlich im schnell kühl werdenden frühen Aprilabend ohne Frontscheibe über das ur-ungarische Land heimwärts, Richtung Grenze. Wir fröstelten alle, mein kleiner dreijähriger Bruder rief seinen Teddy zu Hilfe.
Und doch machten wir etliche Ausflüge dieser Art hinüber in die Nachbarschaft. Die Stempel im roten Reisepaß vermehrten sich. Wir mochten die Knödel und das Zlaty Bazant Bier. An der Tankstelle in Gyõr aber vernahmen wir stets den Satz, der einem Seufzer glich: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.”
Wieder verstrichen einige Jahre. An einem finsteren Abend im Feber schoben wir die Hausübungshefte auf dem Schreibtisch zur Seite und füllten detaillierte Fragebögen und Formulare aus. Wir mussten aufpassen wie die Haftelmacher, durften keinen Fehler machen, und ganz unten mit schöner Schrift unseren Namen hinmalen. Vater klebte eine Gebührenmarke in die rechte obere Ecke der Drucksorten. Er legte Briefe aus der Schweiz und Deutschland dazu, sowie deren beglaubigten Übersetzungen. Als alles fertig war, sortierte er die Papiere in einer halbholzfreien bläulichen Aktenmappe, klappte den Deckel zu und sagte: „Mal sehen, was daraus wird ...”
Dann warteten wir. Der Frühling war schon fast vorüber, als beim Ausfahren von der Tankstelle der magische Satz erklang: „Tja, hier werden wir bald nach links einbiegen, wenn alles wahr ist.”
Kann aber alles wahr sein?
Das wusste ich bereits, so etwas gibt es nicht, daß alles wahr ist, denn eine kleine Notlüge, ein kleiner Schwindel ist selbst bei größter Anstrengung nicht vermeidbar. Das geht ganz leicht, man findet immer etwas, wofür man zur Verantwortung gezogen werden kann. Und gerade das, wonach man sich am meisten sehnt, kann einem dann verboten werden.
Die neuen Reisepässe kamen in einem dicken, grauen, mit einer Unmenge von Stempeln und Briefmarken versehenen und mit Flachkopfklammern verschlossenen Umschlag an. Die Pässe waren hellblau, ich dachte, dementsprechend könnten wir mit ihnen in die blauen Staaten reisen. Vater erklärte mir, daß „Fenster” hineingestempelt wurden und daß die Westdeutschen und die Schweizer ihre Visa auf die Seiten 8 und 12 geklebt hätten, das waren recht hübsche Bildchen, versehen mit einem glitzernden Zeichen. Für Österreich brauchten wir gar keinen Sichtvermerk, bisher durfte man dorthin ohne Visum gar nicht einreisen.
Der Morgen des 23. Juni 1979 brach hellgrün und gelb schillernd
an. Nun sollte also der große Moment folgen, in dem wir die versteinerten Seufzer langer Jahre hinter uns lassen würden wie einen schiefen Kilometerstein auf der Landstraße. Der Tankwart füllte den Käfer auf, Vater zahlte und wir rollten vor, auf die Kreuzung zu. Die weißen Buchstaben leuchteten uns an, wie immer: Wien 150 und Budapest 146. Vater wartete noch einen Augenblick, dann stellte er die Frage: „Na, wollen wir nach Budapest oder nach Wien?” Und wir brachen in lautes Geheul aus: „Nach Wien, nach Wien, nach Wien!” Wir hüpften im Sitzen auf der hinteren Bank, Vater blickte zurück und lächelte durchgeistigt, legte den ersten Gang ein und verkündete, als übe er eine besondere Gnade aus: „Also gut, wenn ihr so gern nach Wien fahren wollt, dann fahren wir eben nach Wien!”
Und er betastete mit einer instinktiven Bewegung die hellblauen Reisepässe und die mit vielen Stempeln versehenen Valutaausfuhrgenehmigungen in seiner Jackentasche. Dann lenkte er den Wagen auf die wohl tausendmal befahrene Landstraße, die diesmal keine einfache Landstraße war, sondern die Straße zur Grenze.
Zur Grenze, wo die Welt anscheinend doch nicht zu Ende ist.
Ja, es kann sogar sein, daß sie dort beginnt.
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