mehes.karoly@meheskaroly.hu
Alle Texte und Fotos auf dieser Webseite stehen unter Urheberrecht.
fremdsprachige publikationen ::


<< Vorige Seite    1   2   3   4   5    Nächste Seite >>


EINE ANDERE MUTTER, EIN ANDERER VATER. In: TOP22, Aramo Verlag, 2006 Krems/Stein

2004






Grenzverkehr. Ein grenzenloses Gefühl. Drava Verlag, Klagenfurt

2006

Die Grenze ist das, wo etwas endet. Ganz endet. Sie trennt nicht, sie schließt ab. Ja, noch genauer: sie schließt ein.
In Gyõr steht an der Straße der Räterepublik ein grüner Wegweiser. Er ist am besten zu sehen, wenn wenn man von der Tankstelle kommend mit vollem Tank fast überall hin aufbrechen könnte. Das Schild zeigt nach links: Wien, nach rechts: Budapest. Wien ist 150 Kilometer entfernt, Budapest 146.
Jedes Mal, wenn wir da standen, auf der Kreuzung, sagte Vater wie zum Spaß, aber eher seufzend: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.” Wir saßen auf der hinteren Sitzbank des Volkswagens und verstanden seine Bemerkung nicht so richtig. Warum sollten wir nach Wien fahren? Und was ist dort so beseufzenswert, in 150 Kilometer Entfernung? Und wieso wieder nicht? Wobei es durchaus stimmte, daß wir auch gestern nicht und vorgestern nicht gefahren sind, ja, wir sind niemals nach Wien gefahren. Was hätten wir dort auch zu suchen?
Dann gingen einige Jahre ins Land. Wir erhielten rote Reisepässe, mit denen wir zu den Osterferien in die Tschechoslowakei fuhren. Diese kleine Büchlein stellten eine wichtige Errungenschaft dar, sie waren ernsthafte Dokumente, und ihre Inhaber mußten sich dementsprechend ernsthaft (sprich: brav) verhalten, als wir uns der ungarisch – tschechoslowakischen Grenze näherten. Dort warteten gestrenge Onkels auf uns, sie sahen aus wie Polizisten, sie wollten das rote Büchlein haben und studierten es genau, dann knickten sie ein wenig in den Knien ein und guckten durch das Seitenfenster, um die Fotos mit den Gesichtern der Insassen vergleichen zu können. Ordnung muß sein. Als sie dann alle Dokumente zurückgegeben hatten und leutselig sagten: „Sie können fahren ...”, glätteten sich Vaters Züge, und siehe da, wir waren im freundlichen Ausland angekommen.
Eine komische Gegend. Wir waren im Ausland und hörten dabei auf Schritt und Tritt, daß auch dies hier einmal Ungarn war, und wo wir auch immer anhielten, sprachen die Menschen alle ungarisch. Wir aßen Saftfleisch mit Knödel. Das gab es zu Hause nicht, also waren wir doch in einer fremden Welt. Fremd, aber angenehm. Sie schmeckte gut. Auf der Heimreise knallte uns ein entgegenkommender Lastwagen einen Stein in die Windschutzscheibe; sie verwandelte sich sofort zu Milchglas und musste herausgeklopft werden, Mutter und ich hielten eine Decke unter die Splitter. Der Wagen schlich im schnell kühl werdenden frühen Aprilabend ohne Frontscheibe über das ur-ungarische Land heimwärts, Richtung Grenze. Wir fröstelten alle, mein kleiner dreijähriger Bruder rief seinen Teddy zu Hilfe.
Und doch machten wir etliche Ausflüge dieser Art hinüber in die Nachbarschaft. Die Stempel im roten Reisepaß vermehrten sich. Wir mochten die Knödel und das Zlaty Bazant Bier. An der Tankstelle in Gyõr aber vernahmen wir stets den Satz, der einem Seufzer glich: „Tja, heute fahren wir wieder nicht nach Wien.”
Wieder verstrichen einige Jahre. An einem finsteren Abend im Feber schoben wir die Hausübungshefte auf dem Schreibtisch zur Seite und füllten detaillierte Fragebögen und Formulare aus. Wir mussten aufpassen wie die Haftelmacher, durften keinen Fehler machen, und ganz unten mit schöner Schrift unseren Namen hinmalen. Vater klebte eine Gebührenmarke in die rechte obere Ecke der Drucksorten. Er legte Briefe aus der Schweiz und Deutschland dazu, sowie deren beglaubigten Übersetzungen. Als alles fertig war, sortierte er die Papiere in einer halbholzfreien bläulichen Aktenmappe, klappte den Deckel zu und sagte: „Mal sehen, was daraus wird ...”
Dann warteten wir. Der Frühling war schon fast vorüber, als beim Ausfahren von der Tankstelle der magische Satz erklang: „Tja, hier werden wir bald nach links einbiegen, wenn alles wahr ist.”
Kann aber alles wahr sein?
Das wusste ich bereits, so etwas gibt es nicht, daß alles wahr ist, denn eine kleine Notlüge, ein kleiner Schwindel ist selbst bei größter Anstrengung nicht vermeidbar. Das geht ganz leicht, man findet immer etwas, wofür man zur Verantwortung gezogen werden kann. Und gerade das, wonach man sich am meisten sehnt, kann einem dann verboten werden.
Die neuen Reisepässe kamen in einem dicken, grauen, mit einer Unmenge von Stempeln und Briefmarken versehenen und mit Flachkopfklammern verschlossenen Umschlag an. Die Pässe waren hellblau, ich dachte, dementsprechend könnten wir mit ihnen in die blauen Staaten reisen. Vater erklärte mir, daß „Fenster” hineingestempelt wurden und daß die Westdeutschen und die Schweizer ihre Visa auf die Seiten 8 und 12 geklebt hätten, das waren recht hübsche Bildchen, versehen mit einem glitzernden Zeichen. Für Österreich brauchten wir gar keinen Sichtvermerk, bisher durfte man dorthin ohne Visum gar nicht einreisen.
Der Morgen des 23. Juni 1979 brach hellgrün und gelb schillernd
an. Nun sollte also der große Moment folgen, in dem wir die versteinerten Seufzer langer Jahre hinter uns lassen würden wie einen schiefen Kilometerstein auf der Landstraße. Der Tankwart füllte den Käfer auf, Vater zahlte und wir rollten vor, auf die Kreuzung zu. Die weißen Buchstaben leuchteten uns an, wie immer: Wien 150 und Budapest 146. Vater wartete noch einen Augenblick, dann stellte er die Frage: „Na, wollen wir nach Budapest oder nach Wien?” Und wir brachen in lautes Geheul aus: „Nach Wien, nach Wien, nach Wien!” Wir hüpften im Sitzen auf der hinteren Bank, Vater blickte zurück und lächelte durchgeistigt, legte den ersten Gang ein und verkündete, als übe er eine besondere Gnade aus: „Also gut, wenn ihr so gern nach Wien fahren wollt, dann fahren wir eben nach Wien!”
Und er betastete mit einer instinktiven Bewegung die hellblauen Reisepässe und die mit vielen Stempeln versehenen Valutaausfuhrgenehmigungen in seiner Jackentasche. Dann lenkte er den Wagen auf die wohl tausendmal befahrene Landstraße, die diesmal keine einfache Landstraße war, sondern die Straße zur Grenze.
Zur Grenze, wo die Welt anscheinend doch nicht zu Ende ist.
Ja, es kann sogar sein, daß sie dort beginnt.


(Übersetzung von György Buda)





Kindsein in Ungarn. Károly Méhes rührt an Geheimnissen ungarischer Geschichte

2005






Der hollandische Skispringer (A holland síugró)

2002

Literarische Stadtbilder. Mattersburg. Edition der Provinz, 2002
Übersetzer: György Buda





Die Erhaltung von der Materie. Zwei Bärte. Wieser Verlag, Klagenfurt + Rezension

2002






<< Vorige Seite    1   2   3   4   5    Nächste Seite >>